Melrose – Hawick (sprich: hoick)
36 km
Ich hatte nicht gut geschlafen. Zwar stand uns heute nochmal eine kurze Etappe bevor, aber wenn es nach einem so-naja-Frühstück als erstes gleich mal circa 1,5 km relativ steil bergan geht, tut Steffen gut daran, etwas Abstand zu halten und mein Grummeln zu ignorieren. Der Mann einer lieben Kollegin hat mal gesagt: das wird erst im Nachhinein so richtig schön. Wahrscheinlich gilt das auch für den heutigen Vormittag. Aber auch der anstrengendste Anstieg geht mal vorbei und wenn man dann weit in die herrliche Landschaft blicken und gemütlichen Tempos den Berg wieder runterrollen kann, sieht die Welt schon viel besser aus. Es gab noch ein paar mehr Anstiege, aber ganz so schlimm wurde es zum Glück nicht mehr. Und wie einer von drei uns überholenden schottischen Rennradler meinte: welcome to the rolling scottish borders. Zwischendurch fuhren wir auch mal wieder einen schmalen Radweg entlang, der uns über eine kleine Brücke und hohes Gras (leider auch in den Weg ragende Brennnesseln) zu einer Picknickstelle führte. Wir machten eine kleine Pause und sahen, wie ein Wiesel aus dem Gebüsch über den Weg huschte. Natürlich war es längst weg, als wir auch nur daran dachten, den Fotoapparat zu zücken.
Nun ereichten wir bald Hawick. Auf einem Radweg direkt am Fluss entlang kamen wir direkt zur Borders Distillery, gerade rechtzeitig um die 13.00 Uhr-Führung mitzumachen. Da wir wussten, dass eine Führung auch immer mit einem Tasting verbunden ist, aßen wir schnell noch ein paar Kekse, um nicht ganz auf leeren Magen Alkohol zu genießen. Wir waren eine kleine Gruppe von sieben Leuten. Ein sehr junger Mann, der seit drei Jahren in der Destillerie arbeitet, führte uns herum. Die Destillerie wurde erst 2018 hier wiedergegründet. Seit der Regentschaft von Queen Victoria war hier kein Whisky mehr gebrannt worden. Für die heutige Destillerie nutzte man historische Gebäude, die zuvor ein Elektrizitätswerk und später eine Bonbonfabrik beherbergt hatten und dann lange Zeit leer standen. Unser Guide erinnert sich, dass er die leerstehenden Gebäude in seiner Kindheit sehr gruselig fand und schnell daran vorbeirannte; nun arbeitet er hier. Wir sahen die Mühle, in der das angelieferte Getreide, vor allem Gerste, aufgespalten und für den Gärungsprozess vorbereitet wird, der dann in riesigen Tanks stattfindet. Nach der Zugabe von Hefe beginnt nach spätestens 72 Stunden der Destillationsprozess. Erst danach wird entschieden, welche Spirituose hergestellt wird. Neben Whisky werden auch Gin und Wodka erzeugt, allerdings nur zu 1 % der Gesamtproduktion. Es wurde zunächst viel experimentiert, um den gewünschten Geschmack zu erzielen. Manche dieser Experimente liefen richtig schief, z.B. als man Roggen verwendete, der das gesamte zugesetzte Wasser aufsaugte und nicht wie die Gerste wieder abgab, sondern schließlich hart wie Beton wurde und nur mit sehr großem Aufwand aus den Tanks entfernt werden konnte. Nach der ersten Destillation wird entschieden, ob Whisky, Wodka oder Gin herauskommen soll. Für Wodka und Gin erfolgt die zweite Destillation unter Zusatz von Aktivkohle, um die für den Whisky gewünschten, aber ansonsten unerwünschten Geschmacksnoten zu neutralisieren. Wodka, der ganz geschmacksneutral sein muss, wird ein drittes Mahl unter Zusatz von Aktivkohle destilliert, während dem Gin nun die Pflanzenstoffe (Wacholder, Koriander, Zimt, Zitronenschale) zugesetzt werden. Inzwischen ist man auf einem guten Weg, und sowohl der Whisky als auch Gin und Wodka sind sehr gut, wie wir beim Tasting feststellen konnten.
Nach dem Alkoholgenuss war es Zeit, endlich etwas richtiges zu Essen. Die Frau im Shop zeigte gleich hinter der Destillerie auf ein kleines Cafe, allerdings sei die Auswahl auf der High Street größer. Wir versuchten es im Cafe und waren begeistert, der Pulled Pork Burger und das Open Sandwich (eine dicke Scheibe Sauerteigbrot mit Lachs, Hering, Thunfisch, Lachscreme und Salat) schmeckten hervorragend.
Ab 16.00 Uhr konnten wir unsere Unterkunft beziehen. Bis dahin war noch etwas Zeit und so erkundeten wir noch kurz die Stadt, vor allem unter dem Aspekt wo wir beim heutigen Konzert unsere Räder sicher parken konnten. Hawick ist eine ganz nette Kleinstadt am Fluss Teviot gelegen. Es wird gerade viel gebaut. So gibt es zahlreiche Fußgängerbrücken über den Fluss und auch neue Hochwasserschutzanlagen. Wir konnten durch einen sehr schönen Park am Fluss entlang aus der Stadt heraus bis fast zu unserer Unterkunft fahren. Unterwegs kamen wir an einem Denkmal für Johnny Guthrie vorbei, einem Motorradrennfahrer, der 1937 bei einem Rennen in Hohenstein-Ernsttal (Sachsenring) tödlich verunglückt ist. Unser Nachtlager befand sich 3,3 km südlich in einem sehr schönen alten herrschaftlichen Gebäude, dem Whitchester Christian Centre. Wir wurden sehr nett empfangen und durch das Gebäude geführt. Wir brachten unser Taschen ins Zimmer, duschten und machten noch ein kleines Nickerchen, um für das Konzert heute Abend fit zu sein. Dann zogen wir uns stadtfein an, packten unsere Regenjacken ein und fuhren wieder zurück in die Stadt. Bis zum Einlass war noch etwas Zeit, so aßen wir noch eine Kleinigkeit und tranken einen Tee.
Das Konzert fand in der Town Hall statt. Es herrschte freie Platzwahl. Wir fanden in der 4. Reihe Platz und hatten sehr gute Sicht auf die Bühne. Zunächst sang John Douglas, der Mann von Eddie Reader, der selbst in der Band „The Sinatras“ spielt, ein paar Lieder zur Akustikgitarre. Einige kamen uns bekannt vor. Es war auf jeden Fall eine tolle Einstimmung auf das Konzert. Dass nach einer halben Stunde dann bereits Pause war, war etwas befremdlich, aber holten uns noch ein Getränk an der Bar und dann kam auch schon Eddie Reader auf die Bühne. Ich habe zwei CDs von ihr, eine mit vertonten Gedichten von Robert Burns und ein Best Of Album. Erst vor Kurzem habe ich mitbekommen, dass sie die Frontfrau von Fairground Attraction war (die übrigens demnächst eine Reunion Tour machen). Ihr größter Hit „Perfect“ ist sicher den meisten bekannt. Das Konzert war wirklich toll! Nicht nur die Vielfalt an Liedern und Genres von Balladen, Rock bis hin zu Jazz, ihre tolle Stimme und auch ihre Erzählungen von ihrer Familie, die mit herkömmlicher Religion nicht viel im Sinn hat, die aber wie ihr Vater sagte „Presleyans“ seien. Zuhause bei ihr hing ein riesiges Elvis-Poster über dem Kamin und bei jeder Feier wurde gesungen. Für uns ein wirklich tolles Konzert, auch wenn der schottische Dialekt manchmal schwer zu verstehen war. Und es gab niemanden, der sein Handy zückte und ständig fotografierte oder mitfilmte. Stattdessen wurde fröhlich mitgesungen, besonders die Refrains der schottischen Lieder.
Der Rückweg durch den Park war bei dem Regen nicht besonders angenehm. In unserem Lichtkegel flogen zahlreiche Insekten und ein paar Kaninchen haben wir wohl auch aufgeschreckt.