The Gordon Arms (Yarrow) – Melrose
37,3 km
Bei einem guten Frühstück kamen wir heute doch etwas mit der Wirtin ins Plaudern. Zum Müsli gab es nämlich frische Erdbeeren und Blaubeern, laut Speisekarte, die die Herkunft der im Restaurant verarbeiteten Produkte (meist regional) mit Entfernung zum Erzeuger auflistet, nur „12 Schritte entfernt“, also aus dem eigenen Garten. Und gerade jetzt „explodiert“ der Garten, es ist Erdbeersaison, viel später als in England, in Oxfordshire wo die Inhaber 20 Jahre ein Restaurant hatten. Die Eier sind aus der Nachbarschaft, die Züchterin hat dafür bei einer Ausstellung des Women’s Institute – die Wirtin machte eine ironische pompöse Geste – einen Preis bekommen!
Der Küchengarten ist noch im Aufbau, einschließlich Kartoffeln, Gewächshaus usw.
Gut gestärkt machten wir uns auf den heute nicht so weiten Weg. Erstmal ging es ein gutes Stück sanft bergan, dann lange sachte bergab. Rechts und links säumten grüne Hügel mal mit Schafen mal mit Rindern die Strecke. Auf Nebenstraßen und ruhigen Wegen fuhr es sich sehr angenehm.
Am Weg lag die Ruine von Newark Tower (erstmals 1423 errichtet und mehrfach wieder aufgebaut), ein sogenannter Peel Tower, von „pillar“ (Pfeiler) für die ursprünglich als Schutzzaun genutzten angespitzten Baumstämme, die später allmählich zu Gebäuden ausgebaut wurden. Diese Türme waren im schottisch-englischen Grenzland weit verbreitet; sie dienten als Zufluchtsort für Mensch und Vieh bei akuter Gefahr, z.B. bei Übergriffen der „Reiver“ (Räuber) oder konkurrierender Clans. Zugleich dienten sie als Signalürme – so schrieb es das schottische Parliament vor – um durch Feuer oder Rauch vor einer herannahenden feindlichen Streitmacht zu warnen.
Und da sind wir schon inmitten schottischer Geschichte, einem Thema dem sich Sir Walter Scott leidenschaftlich vor allem in seinen Romanen widmete. Sein Landsitz Abbotsford House war heute unser erstes Ziel. Scott hatte das Anwesen 1812 erworben und sein „Traumhaus“ mit zahlreichen Erkern und Zinnen – irgendetwas zwischen Herrenhaus, Burg und Schloss – errichten lassen. Mancher mag das Haus genauso als Kitsch abtun wie Scotts Romane, die sich lange nach den eigentlichen Ereignissen und einem neuen Zeitalter mit Historienthemen beschäftigten, die „eigentlich keinen mehr interessierten“. Aber ihm wird angerechnet, dass er das Bewusstsein für die eigene schottische Geschichte geweckt hat, eine Faszination für geschichtliche Ereignisse und Dinge, die er in Abbotsford House sehr kultiviert, vielleicht sogar auf die Spitze getrieben hat. Nicht allein dass er architektonische Anleihen historischer Bauwerke nahm (ein Torflügel des alten Tolbooth-Gefängnisses in Edinburgh, eine Nachbildung des Kreuzgangs der Abtei von Melrose); er sammelte auch was das Zeug hielt, alte Waffen, Rüstungen aus dem Mittelalter und der jüngeren Geschichte – z.B. Kürassierbrustpanzer und Mütze, die er höchspersönlich 60 Tage nach der Schlacht von Waterloo vor Ort einsammelte. Und so ist das Haus ein Sammelsurium von historischen Gebrauchs-, Einrichtungs- und Kunstgegenständen. In Bibliothek, Salon und Esszimmer sind die Sammelobjekte geschmackvoll angeordnet, etwas dezenter als im mit Krummsäbeln, Dolchen, Schwertern, Rüstungsteilen, Flinten und Musketen vollgestopften „Waffenraum“, auch scherzhaft von einem Besucher „armoury“ genannt (eigentlich Zeughaus oder Waffenkammer). Und passend dazu wurde das Arbeitszimmer mit einem Schreibtisch im Zentrum, umgeben von zweistöckigen Bücherwänden als „Handbibliothek, zu Scotts „Gefängnis“. Nach dem kostspieligen Krieg gegen Napoleon erlebte Großbritannien eine tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise, die auch vor Scotts Verlegern, deren Banken, und damit vor Scotts Vermögen nicht haltmachte. So schrieb er quasi um sein finanzielles Überleben, bis zum letzten Lebenstag.
Friedvoller als all diese Geschichten wirkt der Garten, der wieder in der ursprünglichen Form grünt und blüht.
Das Anwesen mit allem Inventar ist übrigens so erhalten wie zu Lebezeiten Walter Scotts – eine Rarität bei historischen Gebäuden, wo immer das eine oder andere zumindest im gleichen Stil ergänzt werden muss. Nach dem Tod der letzten Nachkommen Scotts wurde eine Stiftung gegründet, die heute das Anwesen unterhält und gerade ein Mammutprojekt realisiert: die Sichtung, Sicherung und Erschließung des umfangreichen archivarischen Nachlasses der Familie Scott.
Wir haben nur einen kleinen Einblick gewinnen können, aber selbst das war ganz schön viel. Wir brauchten jetzt unbedingt eine Pause und ein Picknick. Apropros Bruchteil: als wir uns wieder auf die Fahrräder schwingen wollten, entdeckten wir, dass eine Pedale an Birgits Rad irgendwie verbogen war. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, das zwei Schrauben fehlten, mit denen der Pedalrahmen an den Lagerhülsen befestigt ist. Im Werkzeugset fand ich zwei Schrauben mit dem richtigen Durchmesser; allein sie waren ein Stückchen zu lang. Im nächsten Ort auf unserer Strecke (Tweedbank) sollte es eine Fahrradwerkstatt geben, Auf dem Weg dahin mussten wir uns aber erst einmal stärken – wir taten dies am Ortsteich(see?) gemütlich auf einer Bank.
In der Werkstatt fanden sich in der „Schatztruhe“ wie ich sie nannte, zwei passende Schrauben und der junge Mann gab mir noch zwei Ersatzschrauben mit. Da es sich um ein gemeinnütziges Projekt handelte, gaben wir eine kleine Spende als Dank für die Hilfe und konnten unsere Tour fortsetzen. Vielleicht treffen wir ja morgen beim Konzert die eine Projektmitarbeiterin wieder, mit der Birgit am Rande unserer Tourbeschreibung auf Eddi Reader zu sprechen kam…
Über eine ehemalige Eisenbahnstrecke, Radwege und Nebenstraßen gelangten wir nach Melrose. Unser Hotel auf der Hauptstraße war schon zu sehen, wir aber bogen zur Abtei von Melrose ab. Wir hatten Glück und konnten die Überreste der Melrose Abbey, die am Standort des 1136 gegründeten Zisterzienserklosters erbaut worden war, und das angeschlossene Museum noch besichtigen. Wegen umfangreicher Sicherungs- und Restaurierungsarbeiten war das Innere der Ruine nicht zugänglich. Wir konnten aber von außen einen Eindruck von dem impossanten Bau gewinnen. Auch einige Skulpturen und Dekore, wie Säulenfiguren und Wasserspeier waren gut zu erkennen – darunter auch ein Wasserspeier als Dudelsack spielendes Schwein (das Schwein mit der Sackpfeife).
Übrigens wurde auf dem Kloster-Gelände unter einem keltischen Dekorstein das 1996 bei Restaurierungsarbeiten entdeckte Behältnis mit dem Herzen von Robert the Bruce wieder beigesetzt.
Nach so viel Kultur- und Wissenspflege kam jetzt im Hotel erstmal die Körperpflege. Frisch geduscht machten wir noch eine Runde durch den Ort, sichteten das gastronomische Angebot und entschlossen uns dann doch für unser Hotelrestaurant und -bar.
Lustigerweise gab es ein lokales Bier mit Namen „Modernes Hell“, als Hauptgericht Chicken Balmoral bzw. Scampis mit Pommes, als Nachtisch Eton Mess (Zuckerschock!!!).