Danvers – Boston (60 km)

Heute morgen die erhoffte angenehme Überraschung: Sonne! Da ließ sich doch der Tag ganz anders an, zumal wir bereits drei Übernachtungen in Boston gebucht hatten, um zwei volle Tage die Stadt zu erkunden.

Nach einem selbst zubereiteten Frühstück mit Müsli (mal nicht aus der Pappschale, sondern aus unseren „Hightech“-Edelstahl-Camping-Tellern/Schüssel), frischen Erd- und Blaubeeren, Banane, Joghurt, Cheddarkäse und unseren „Reisecrackern“, die uns schon einige Kilometer als Notration begleiten, konnten wir sofort starten. Nur kurz um zwei-drei Ecken auf der Straße und schon waren wir wieder auf der richtigen Strecke auf einer ehemaligen Eisenbahnstrecke.

Am Rande plötzlich ein mit amerikanischen Fähnchen geschmückter Appell für Liebe und Frieden mit einem „Gedenkstein“ mit der Aufschrift „Gott schütze Amerika“. Vergleichbare, fast flehentliche Aufforderungen wie „Seid nett zueinander“ (Be kind) hatten wir unterwegs schon oft gesehen. Es gab also noch Menschen, die Hass und Zwietracht hier etwas entgegensetzen wollen. Und noch ein nachdenklicher Moment: Die Route führte über das Gelände eines jüdischen Friefhofs, mit einem Gedenkstein an die Opfer, die in den Vernichtungslagern der Nazis umgebracht worden waren.

Die Straßen konnten wir bald verlassen – es ging auf der Strecke der ehemaligen Essex-Railroad (gebaut 1846, eröffnet 1848) weiter. Der weitere Ausbau der Strecken Richtung Salem, Georgetown und Boston machte Peabody/Danvers zu einer wichtigen Durchgangsstation. Vor allem bot die Eisenbahn, anders als Kutschen und Planwagen, eine bequemere und erschwingliche Möglichkeit, um auch weiter entfernte Arbeitsplätze zu erreichen. Mit dem Aufkommen des Automobils und dem Ausbau der Fernstraßen bekam die Bahn Konkurrenz. 1956 unterzeichnete Präsident Eisenhower ein Gesetz zur Unterstützung des Fernstraßenbaus; die Interstate 95 war geboren. Viele Eisenbahnstrecken wurden aufgegeben und später zu Spazier-, Wander- und Fahrradwegen umgestaltet – gut für uns aber schlecht für die Umwelt und umweltfreundlichere Verkehrsmittel.

So kamen wir gut und nur mit wenigen Straßenkilometern voran. Wegen des Wochenendes und dem Muttertag waren aber auch viele Menschen spazierend oder radfahrend unterwegs. Die Trails kreuzten immer mal wieder die Straßen, die Überwege waren aber als solche markiert, manche sogar mit aktivierbaren Warnleuchten. In Salem kamen wir bei bestem Sonnenschein an. Die meist farbenfrohen historischen Häuser von Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts täuschten darüber hinweg, dass in der Stadt, dessen Name eigentlich Frieden bedeutet, 1692 in einer „Hexenjagd“ 200 Menschen der Hexerei beschuldigt und letzlich 19 Frauen und ein Mann gehängt wurden. Die Historie wird auch entsprechend vermaktet, im Salem Witch Museum und auch bei Souvenirs und Touristenführungen. Wir wollten nicht Zeuge nachgestellter Folterungen werden und verzichteten darauf. Die Bezeichnung „Hexenjagd“ erlangte in den 1950er Jahren noch einmal im politischen Kontext Bedeutung, und zwar bezogen auf Senator McCarthy, der viele unliebsame kritische Intellektuelle wegen unamerikanischen Verhaltens vor den gleichnamigen Ausschuss zerren ließ. Vor diesem Hintergrund ist es schon eine Ironie der Geschichte, dass sich ein Mann als Opfer einer Hexenjagd bezeichnet, der selbst einen Feldzug gegen kritische Wahrheiten, Botschaften und deren Überbringer führt.

Zurück zum Trail, den wir außerhalb Salems dann als Marblehead Rail Trail fahren konnten. In Malden am Wegesrand erinnerte eine Wand an die Covid-19-Pandemie, die Opfer, Angehörigen und Helfer – mit Bildern und bewegenden Gedichten.

Erst später ging es auf der Straße zur Küstenstraße entlang langer Sandstrände. In Lynn war viel los auf der Straße und an der Strandpromenade, dort mussten wir höllisch aufpassen. Aber dann ging es auf den Northern Strand Trail (ebenfalls einmal eine Eisenbahnstrecke), der sogar bis Boston führte.

In Boston gab es dann extra Radwege, oder wir konnten die Rad- und Spazierwege am Wasser nutzten, Nur die Querung der verschiedenen Wasserläufe und Kanäle war eine Herausforderung: hier mussten wir genau darauf schauen, auf welcher Seite welcher Brücke wir weiterkamen. Unser Hotel lag an der Strecke des East Coast Greenway und am Wasser, es besteht aus mehreren Gebäuden am Battery Wharf. Auf meine Frage beim Check-In, wo wir unsere Räder lassen könnten, wurde ich an den Valet verwiesen, ob dieser dafür ein Plätzchen im Parkhaus findet. Der Portier (Doorman) von Haus 4 klärte alles vorab telefonisch und führte mich dann mit den abgepackten Rädern durch die „Katakomben“ des Hotels, zu denen nur Hotelangestellte Zugang haben. Mit Blick auf die mehrstöckigen „Autoregale“ wurde mir sofort klart, warum die Gäste ihre Autos nicht selbst parken. Ich konnte unsere Räder aber einfach an der Wand abstellen, anschließen, und der Portier führte mich auch wieder durch das Labyrinth hinaus und gab mir eine Gepäckquittung für jedes Rad. Das erinnerte uns an New York, wo wir unseren Mietwagen für 2 Tage in ein solches Regal abgaben und einen kleinen Zettel (so groß wie ein Getränkebon) dafür bekamen. Nachdem Birgit und ich uns frisch gemacht und umgezogen hatten, stand noch die Abendbrotfrage. Wir gingen zum Restaurant Sail Loft, weil die Speisekarte mit reichhaltigem Seafood-Angebot sehr ansprechend klang – leider 1 Stunde Wartezeit, beim nächsten Lokal ebenfalls Wartezeit. Also hinterließ ich meine US-Telefonnummer und verfolgte online unser Vorrücken auf der Warteliste. Aber der Spaziergang lohnte sich: die Sonne tauchte Hafen und die Silhouette der Hochhäuser in ein ganz besonderes Licht. Vom Logan International Airport am gegeüberliegenden Ufer stiegen die Flugzeuge scheinbar ganz knapp über den Häusern und einem alten Dreimastsegler in die Luft.

Wir waren nach einer ausgiebigen Runde wieder am Sail Loft angekommen. Das Warten hatte sich auf jeden Fall gelohnt…