Leersum – Dordrecht
117,5 km
Nein, wir hatten nicht getrunken, auch keine bewusstseinserweiternden Substanzen eingenommen – die Kamele waren immer noch da! Im Morgennebel standen sie da: drei Kamele auf der Weide hinter dem Haus. Das Rätsel klärte sich auf als wir zum Frühstück hinunter in die Küche gingen: Vor dem Haus stand ein Pferdeanhänger mit der Werbeaufschrift „Kameel- en Kerststalverhuur“ (Kamel- und Krippenverleih). Im Gehege am Haus hatten wir noch einige andere exotische Wildtiere entdeckt. Nach einem ausgiebigen leckeren Frühstück machten wir uns wieder auf den Weg. Wir kürzten ein wenig ab und nahmen direkt die kleine Straße vom Campingplatz nach Wijk bij Durstede. Hier nahmen wir die erste Fähre. Nach einer weiteren Brückenüberquerung ging die Radroute weiter über Land und streifte nur ab und zu einen Wasserlauf. Nach einer Morgenstimmung wie auf einem Vermeergemälde wurde es nun langsam heller und wärmer – die Sonne kämpfte sich langsam durch die Wolken. Rechts und links des Weges säumten Obstplantagen unseren Weg; leckere Birnen und rotbäckige Äpfel hingen an den Obstspalieren, einige wurden gerade gepflückt. Wir kamen durch die „Oranjestadt Buren“, ein niedlicher kleiner Ort, vor deren Ziegelkirche ein „Familienporträt“ der Oranjer als Gussskulptur aufgestellt war.
Ab Geldermalsen begleitete uns das Flüsschen Linge auf dem malerischen Weg, der unsere Niederlande-Klischees vollends bediente: Pferde auf der Weide vor einer Windmühle, daneben das Flüsschen mit einem Boot, alles noch mit einem leichten Nebelschleier weichgezeichnet.
In einem Ort standen einige Hühner sehr ordentlich unter einem Schild, als würden sie auf den Bus warten. Weit und breit war aber kein Hühnerexpress zu sehen.
Nach etlichen Kilometern war jetzt eigentlich Zeit zum „Nachtanken“. Ein Pannekoekenhus war leider nicht in Sicht, auch nicht in Leerdam, wo wir eine kurze Runde durch die Stadt drehten und dann kurz vor der Brücke zurück auf das anderen Ufer in einem Café in der Stadtmauer mit Broodjes, Saft und Espresso unsere Energiespeicher wieder auffüllten. Aufgrund unserer gestrigen mühsamen Unterkunftssuche wollten wir diesmal nichts riskieren und buchten online über booking.com ein Zimmer in der Dordrechter Innenstadt.
Ab Gorinchem erwartete uns eine längere Fährüberfahrt bis zum alten Hafen von Woudrichem, restauriert im Stile des 17. Jahrhunderts. Ein älterer Herr mit Fahrrad erkundigte sich bei Birgit nach dem Woher und Wohin und beschrieb ihr wortreich auf Nederlands den Weg auf den Deichen in Richtung Dordrecht. Er müsse ja nicht so weit, weil er ja sein „Hotel“ in Woudrichem habe.
Hinter Werkendam sollte die Route durch das Schutzgebiet „Biesbosch“ führen. Der Weg lief auf Deichen entlang kleiner Fleete, durch Baumalleen, regelmäßig wie ein Säulengang. Verunsichert wurden wir allerdings stellenweise durch die Ausschilderung des „Rijnfietswej“ (Rheinradweges), die vom bikeline-Führer und dem GPS-Track abwich. Hier mussten wir uns erst einmal gründlich anhand von Karte und GPS orientieren, weil der Wegweiser eigentlich genau in die Gegenrichtung führte – wahrscheinlich auf einem zusätzlichen landschaftlich schönen Bogen. Pech hatten wir an der Fähre. Leider fuhr sie in der Nebensaison nur am Wochenende und nicht heute am Freitag. Also mussten wir bis zur nächsten Brücke wieder zurück nach Werkendam, von wo wir aber den kürzesten Weg zur Fähre entlang der Straße nahmen. Die letzten Ausläufer des Schutzgebiets waren von hier noch zu sehen: weite Wasserflächen mit Unmengen von Wasservögeln.
Hinter Fähre war wieder eine Gewissensentscheidung zu treffen: Direkt auf kürzestem Weg nach Dordrecht oder entlang der Radroute, die noch einen ordentlichen Bogen schlug. Auch wenn wir schon mehr als genug Kilometer in den Beinen hatten, wählten wir die originale Route. Und wir sollten es nicht bereuen. Sie führte auf einem schönen Wege entlang des Deichs und belohnte uns auch mit einem Blick auf ein Vogelparadies mit Reiher, Kranich und anderem Kleingeflügel.
Schließlich rollten wir auf gut ausgebauten und ausgeschilderten Radwegen in Dordrecht ein. Da es nach Ladenschluss war, konnten wir auch durch die Fußgängerzone radeln „Fietsen toegelaten … winkels gesloten“. Wir langten an der Prinsenstraat 61 an, unserem online gebuchten Quartier. Es handelte sich aber nicht um ein Hotel sondern ein B&B. Außen war keine Klingel zu sehen, also riefen wir die hinter die Scheibe geklemmte Telefonnummer an, ohne Erfolg. Dann suchte ich noch die Telefonnummer aus der Buchungsbestätigung raus und es meldete sich „Jan“. Die Tür öffnete sich und ein freundlicher Niederländer mit Bart und Brille begrüßte uns und lüftete das Rätsel um die Klingel: ein unscheinbarer Messingknauf in der Wand des historischen Gebäudes musste nur gezogen werden, es läutete eine echte Glocke im Hausflur.
Wir fuhren mit den Rädern einmal um die Ecke und gelangten durch ein Hoftor an der Rückseite der Häuserzeile in einen kleinen paradiesischen Stadtgarten. Jan bot uns erstmal etwas zu Trinken an, später kam auch Nathalie, seine französische Frau dazu und wir unterhielten uns noch ein Weilchen auf Niederländisch, Deutsch, Englisch, Französisch. In unser Zimmer gelangten wir durch das zum Teil schon sehr schön rekonstruierte alte Haus mit Stuckornamenten über zwei steile Stiegen. Ein tolles Schlafzimmer, ein schönes modernes Badezimmer, das wir natürlich gleich ausgiebig nutzten und uns „stadtfein“ machten. Mittlerweile waren wir schon etwas hungrig und so beeilten wir uns bei dem Spaziergang durch die alten Gassen. Nach einem gemütlichen Essen auf dem Marktplatz konnten wir ruhig zurückschlendern und die romantisch beĺeuchteten alten Gebäude und Grachten bewundern, Fotos natürlich inklusive.